Aus der Geschichte unseres Unternehmens

Rückenstärkung für die Zeitung

Ein Besuch in Deutschlands ältester Zeitungshalter - Fabrik R.G.Polster in Worms

Ein Bericht von Dr. Oliver Bentz

 

Wer von uns Zeitungslesern hat sich im Café, beim Friseur, im Wartezimmer des Arztes oder an anderen Orten mit öffentlich ausliegenden Presseerzeugnissen noch nicht fürchterlich geärgert, wenn er bei der Lektüre dieser Zeitung und Zeitschriften feststellen mußte, das Teile fehlten oder sich das Lesegut in einem ungeordneten oder erbärmlich zerfledderten Zustand befand?

Solche Unbill, die Konsumenten gemeinschaftlich genutzter Printmedien gelegentlich widerfährt, hätte sich in einer Vielzahl der Fälle sicherlich verhindern lasse, hätte die auslegende Stelle auf ein Produkt zurückgegriffen, das seit Jahrhunderten den Zeitungen den Rücken stärkt: den Zeitungshalter. Eine Vorrichtung in Form zweier Klemmbretter, in die eine Zeitung eingespannt wird. Sie erleichtert dem Leser das Zusammenhalten der unterschiedlichen "Bücher" so der Fachausdruck für die verschiedenen Lagen, aus denen sich die Zeitung zusammensetzt und somit auch die Lektüre. Am oben eingeschraubten Haken lassen siech die Zeitungen dann auch geordnet, an Garderobenständern oder speziellen Vorrichtungen aufgehängt aufbewahren.

Schon Friedrich Nicolai, der bedeutende Verleger der Literatur der Aufklärung in Deutschland, der auch ein weitgereister Schriftsteller war, pries im Jahre 1781 in einem seiner Reiseberichte aus Wien dieses Hilfsmittel für den Zeitungsleser. Als er die an schmalen Holzleisten befestigten Zeitungen in einem Kaffeehaus entdeckte, notierte er: "Solche Bretter liegen wohl Dutzend herum. Diese Erfindung ist nicht übel."

Rund um den Erdball ist dieser Gebrauchsgegenstand auch heute noch zu finden: in der Hochblüte der europäischen Kaffeehauskultur Ende des neunzehnten Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hielt er die teilweise über hundert Zeitungen, die in manchem Café auslagen, in Ordnung. In den großen Etablissements gab es gar einen eigens für die Verwaltung der Blätter zuständigen Angestellten - den Zeitungskellner.

Joseph Roth hat dem "Roten Richard", der diese Aufgabe im Berliner "Café des Westens" wahrnahm - er überwachte die Zirkulation der Zeitungen und sorgte beim Einspannen der druckfrischen Journale dafür, das die jeweilige Zeitung auch in den Zeitungshalter kam, auf dem ihr Name gedruckt stand -, nach der Schließung des Cafés 1923 in einem seiner Feuilletons einen anrührenden Nachruf geschrieben: "....In fremden Cafés sitzt er und laßt sich - o Jammer!- Zeitungen reichen. Richard, dereinst unbeschränkter Beherrscher des gesamten in- und ausländischen Lesestoffs, lä0ßt sich von anderen Zeitungskellern Blätter geben. Er, der sozusagen das ius primae noctis, das Entjungferungsrecht über die frischesten Nummern hatte, empfängt Zeitungen aus zweiter Hand! ...Die Wehmut, die mich bei seinem Anblick erfüllt, gleicht jener, mit der ich eine alte Zeitungsnummer betrachte oder ein altes Feuilleton von mir selbst. So teuer ist mir Richard."

Über den Zeitungshalter, diesen seit Jahrhunderten äußerst nutzbringenden Gegenstand, mangelt es bis heute an systematischer Forschung. Sein Erfinder liegt im Dunkeln, seine Entwicklung ist kaum dokumentiert, obwohl die Zeitungshalterherstellung einmal eine Florierende Branche gewesen sein muß. Über zwanzig Betriebe, die dieser Aufgabe nachgingen, gab es noch nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, zwei davon blieben erhalten, einer im Sauerland und die traditionsreiche Firma R.G.Polster in Worms, der man in einem Buch über die europäische Zeitungsgeschichte sicherlich ein eigenes Kapitel widmen müßte.

Rudolf - Georg Polster gründete die Firma 1895 in Würzburg und überführte sie 1897 nach Worms, in eine alte Mühle im Stadtteil Pfiffligheim. Als Polster sein Geschäft 1904 verkaufen wollte, griff der aus Fulda stammende Kaufmann Franz Gatzen zu; er baute Zeitungshalter nach schweizerischem Patent und ließ am 17. Juli 1907 beim Kaiserlichen Patentamt in Berlin eine Eigenkonstruktion mit Selbstverschluß eintragen. Seit 1904 ist der Betrieb - mittlerweile in der dritten Generation von Theo Gatzen geführt - in Familienbesitz und damit die älteste noch existierende Fabrikationsanlage ihrer Art in Deutschland.

Der Besitz der sehr romantisch gelegenen Mühle aus dem Jahr 1747, so erzählt es Firmenchef Gatzen, schloß das "Wasserrecht" ein, und bis in die fünfziger Jahre, als die Maschinen ans allgemeine Stromrecht angeschlossen wurden, trieb die Wasserkraft des vorbeifließenden Pfrimm-Baches sie an. Waren vor dem Krieg noch dreißig Menschen beschäftigt, wird die Arbeit aufgrund der Weiterentwicklung und Perfektionierung der Technik, an der die Gatzens bis heute eifrig tüfteln, zur Zeit von einigen Angestellten erledigt. Dennoch erfordert die Herstellung, bei der Holz- und Metallverarbeitung sowie Drucktechnik zusammenspielen, auch heute noch viel Handarbeit.

Abenteuerliche Geschichten kann der Wormser Firmenchef erzählen, etwa über die häufigen Hochwasser, die vor der Regulierung der Pfrimm den Betrieb immer wieder überfluteten und zu ruinieren drohten, oder über die kluge List, mit der die Familie nach dem Krieg den Abtransport der Fabrikationsanlagen im Zuge der Reparationsforderungen der Alliierten verhinderte: damals schraubte der Vater nämlich wichtige Teile aus den Geräten heraus und versteckte sie in den Kellern und auf den Dachböden sämtlicher Verwandter und Bekannter im Dorf. Als die Militärs die Anlagen begutachteten, fanden sie nur noch eine Ansammlung unvollständiger, für sie wertloser Maschinen und zogen unverrichteter Dinge wieder ab.

Heute sind die Produkte aus Worms weltweit gefragt, Spediteure liefern sie nach Australien, Südafrika, Malta und Japan oder auch an den Persischen Golf. Etwa hundertfünfzig Zeitungsverlage beliefert die Firma in Deutschland, fünfunddreißig sind es in Österreich. Pro Auftrag werden zwischen fünfzig und zweitausend Halter bestellt. Aber auch Großaufträge wie die 67.0000 Stück für ein deutsches Pharmaunternehmen hat die kleine Firma schon innerhalb kurzer Zeit bewältigt. Da wird dann, so Gatzen, "rund um die Uhr gearbeitet, auch an Feiertagen und Wochenenden." Die Jahresproduktion liegt zur Zeit bei über 100.000, mit, so sagt er es zufrieden, "steigender Tendenz".

Von fünf bis zwölf Mark beläuft sich - je nach Modell - der Preis pro Zeitungshalter. Zwölf Standardlängen hat die Firma im Sortiment - je nach Zeitungs- oder Zeitschriftenformat. Um das einfachste Modell "Rekord" herzustellen, sind, bis das rohe Brett zum fertig bedruckten und lackierten Halter wird, 42 verschiedene Arbeitsgänge - viele davon in Handarbeit - notwendig, 94 für die "Nobelausführung" mit dem Namen "Monopol", die fast alle großen Blätter, wie die "Frankfurter Allgemeine" oder die "Süddeutsche Zeitung" aus der Wormser Werkstätte regelmäßig bestellen.

Zur Herstellung der Halter verwendet Gatzen einjährig-gelagertes, kammergetrocknetes Buchenholz, das er aus dem Schwarz- oder Odenwald bezieht. Früher wurden auch Kirsch- oder Nußbaumhölzer verarbeitet, doch diese Materialien sind - von wenigen Ausnahmen und Sonderanfertigungen - für die Kunden heute zu teuer. Die Aufdrucke lassen sich auf zwei Arten auf den Zeitungshalter bringen: sie können eingeprägt oder - wie es heute zum überwiegenden Teil gemacht wird - mittels eines Siebdruckverfahrens aufgetragen werden.

Die Titelköpfe aller erdenklichen Printerzeugnisse, vom Weltblatt bis zum hochspezialisierten Fachorgan liegen in der Werkstatt parat, denn Gatzen beliefert zum größten Teil Stammkunden, die in festen Abständen ihre Nachschublieferungen bekommen. Die gesamte Weltpresse geht durch die Hand des Betrachters, wenn er die Zeitungshalter in allen erdenklichen Farben aus den Musterregalen der Firma zieht und nach exotischen Exemplaren sucht.

"Gar nicht so einfach" sei das früher mit der richtigen Mischung bei der Herstellung der Farben gewesen, erzählt der Chef der Firma. Bis etwa die verantwortlichen der "Frankfurter Allgemeinen" mit ihrem "Frankfurter Blau" oder die "Berliner Morgenpost" mit dem typischen Grasgrün einverstanden waren, mußten unzählige Versuche unternommen werden, handelt es sich doch bei den Zeitungshaltern um ein in hohem Maße identitätsstiftendes Produkt. Heute ermöglicht modernste Technik das mühelose Zusammenstellen eines jeden Farbtones.

Und nicht nur die Zeitungen zählen zu Gatzens Kunden: die Modekonzerne Pierre Cardin und Hugo Boss präsentieren ihre Kataloge und Prospekte eingeklemmt in den mit ihrem Firmensignet versehenen Haltern, Chemieunternehmen und Autohersteller benötigen sie für ihre Messepräsentationen und Hauszeitungen, und Kaffeehäuser spannen die ausliegenden Blätter zwischen die beiden Holzlättchen mit ihrem eigenen Namensaufdruck; so gehören unter anderem die bekannten Cafés "Einstein" in Berlin, "Central", "Florianihof" und "Schwarzenberg" in Wien sowie das "Café Tomaselli" in Salzburg zu den Kunden der Wormser Firma.

Es gibt aber auch "weiße Flecken" auf der Landkarte des weltweit präsenten Betriebes. So sind in den USA kaum Zeitungshalter in Gebrauch, und in England, dem Land mit einer großen Pressetradition, liest man anders. Denn dort stecken die Leute die dickleibigen, pfundschweren Blätter lieber zusammengerollt in die Manteltasche und tragen sie nach Hause.